Fotograf*innen

Armin Smailovic

Buch

ATLAS DER ANGST

Buch

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„(...) Ich schreibe also alles auf, die Summe der Zeichen als eine Schadensliste. Als erstes Kapitel einer Geschichte der Zukunft. Ich steige aus der S-Bahn, sie fährt dunkel davon, ins Dunkle. Dann treffen wir uns auf einem Parkplatz in Schöneberg, der blaue Koffer wird verstaut. Über der Stadt steht die Sonne wie ein falscher Diamant im Schaufenster. Wohin fahren wir zuerst, frage ich. Hinein, sagt mein Freund, der Fotograf.“ (aus Atlas der Angst, Seite 14)

„Unsere Gespräche kreisten ab Herbst 2015 um die German Angst, die vermeintlich typische deutsche Angst, die jetzt, im Angesicht der der sogenannten Flüchtlingskrise, aus allen Poren drang. Ist diese Angst wirklich typisch? Woher rührt sie? Wohin führt sie?”

Das Das waren unsere zentralen Fragen, die, so schien es uns, nicht durch Zeitungslektüre und Fernsehkonsum beantwortet werden können. Wir wollten es durch eigene Anschauung herausfinden. Und entschlossen uns zu einer großen gemeinsamen Reise.

Unsere Motivation war: Ein vermeintlich bekanntes Land, das sich innerhalb kurzer Zeit verändert hat, von einem vermeintlich weltoffenen (siehe sogenanntes Sommermärchen 2006) zu einem Land, indem die Errichtung von Mauern diskutiert wird, neu zu betrachten. Jenseits von Umfragen, Statistiken und der Selbstvergewisserung bzw. Verunsicherung in den Gremien des öffentlichen Diskurses. Als Schauende, Hörende, Wahrnehmende.

Das bestimmende Motiv, die verstörende Melodie in diesem Diskurs ist die Angst. Und wir setzten uns nun das Ziel, dieses Gefühl zu vermessen, es zu kartographieren. Als Atlas.“ — Dirk Gieselmann

„Atlas der Angst“, Buch, Eichborn Verlag, Köln, 2017. Von Armin Smailovic / Fotografie und Dirk Gieselmann / Textutet. 

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„Ein Land liegt vor uns, durchzogen von Adern wie das Gesicht eines alten Mannes: 644.000 Kilometer Straße. Wir werden über Boulevards fahren, auf denen das Land Amerika sein möchte und doch nur Düsseldorf ist. (...) Gegensätze überlagern einander wie in einer Doppelbelichtung. Wir stehen uns selbst gegenüber. Ein Land im Frieden, ein Land im Krieg.“ (aus Atlas der Angst, Seite 15)
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„Am Abend desselben Tages, nur ein paar Straßen weiter. So vieles kann ein Anlass zu einem Volksfest sein, warum nicht auch Langeweile, Dummheit, Angst und Hass. Also drängen sie wieder auf den Theaterplatz und dampfen und schnauben: Tausende. Ein Mob, der die Leere in sich selbst lyncht, ein Fackelzug, der sich an sich selbst entzündet. Die Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes. Wir sind das Volk, rufen diese Leute. ( ...)“ (aus Atlas der Angst, Seite 59)
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„Die Menschen, die in den Krieg ziehen wollen, sagt der afghanische Junge im Straßenlokal, die wissen doch gar nicht, was das ist: Krieg. Sie schauen sich Gewaltfilme an und bekommen heißes Blut. Ich weiß, was Krieg ist. Meine Kindheit war Krieg. Wissen Sie, sagt er, warum ich meine Heimat verlassen musste? Man wollte mir eine Sprengstoffweste anziehen. Man wollte, dass ich explodiere.“ (aus Atlas der Angst, Seite 66)
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„(...) Und jetzt wollen wir noch mal mit Gott reden, sagt die Pastorin. Danke, dass du der einzige bist, der immer da ist. Amen. Dann spielt sie ein Lied auf der Ukulele, das die Kinder nicht kennen. Sommer 2016, steht in der Zeitung, Hitze, Stau, Terror. Ich will nicht mehr nach Tunesien, sagt eine orangefarbene Dame im irisierenden Badeanzug, da ist es mir zu unsicher.“ (aus Atlas der Angst, Seite 84)
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„(...)Wenn in der Zeitung steht, wir sind im Krieg, dann ist das auf vielerlei Weisen geradezu grotesk falsch, aber auf eine ganz bestimmte durchaus richtig: Viele Deutsche wähnen sich im Krieg um die Reinheit Ihres Volkes. Das ist ein neues Zusammengehörigkeitsgefühl in einer zerfallenden Gesellschaft, ein neuer Kampfgeist in Zeiten der Ohnmacht. Aber wieder nicht für, sondern gegen etwas. Hatten wir das nicht schon einmal? (...) Noch geht es uns wirtschaftlich gut. Aber wenn sich das ändert, ist diese Gesellschaft in großer Gefahr. Irgendwo wächst bereits ein neuer Führer heran und wartet auf seine Stunde. (...) Man kriegt es nicht raus aus den Deutschen. Man kriegt es einfach nicht raus. (...)“ (aus Atlas der Angst, Seite 94)
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„Auf die Fingerknöchel der linken Hand hat der junge Kurde vier Buchstaben tätowiert: T A R A. Es ist der Name seiner Verlobten. Sie hat in Mossul studiert, sagt er. Als die Terroristen die Stadt eroberten, wurde sie gefangen genommen. Ich weiß nicht, wo sie ist. Niemand hat je wieder von ihr gehört.“ (aus Atlas der Angst, Seite 145)
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„Das Licht fällt sanft auf den Ort des Pogroms. Im Erdgeschoss des Sonnenblumenhauses in Lichtenhagen hat eine Klavierschule eröffnet, auf der Wiese, von der sie die Molotowcocktails warfen, steht jetzt ein Supermarkt. Familien brauchen Sicherheit, steht auf dem Plakat der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands am Laternenpfahl ganz oben. Deutschland den Deutschen, riefen sie hier im August 1992, Ausländer raus. (...)“ (aus Atlas der Angst, Seite 150)
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„Ein Finanzbeamter hat ein Flüchtlingsheim angezündet. Er habe Angst um das Schöne gehabt und dass die Idylle beeinträchtigt wird, sagt er beim Prozess vorm Lübecker Landgericht aus. Wer erklärt denen, wann der Müll rausgestellt werden muss, wenn die kein Deutsch verstehen?“ (aus Atlas der Angst, Seite 153)
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„Er passe auf, dass ihm nichts geschehe, sagt der Vater zum Sohn. Er sei in Sicherheit. Der Junge schaut zweifelnd drein, gerade so, als hätte er zum ersten Mal erkannt, dass er überhaupt in Gefahr schwebt.“ (aus Atlas der Angst, Seite 198)
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„Wir sind schon längst im Krieg, sagt der Mann im Kreuzberger Keller, der Krieg hat doch nie aufgehört. Es kommt kein Flugzeug aus Kabul und wirft Bomben auf Berlin, sagt er, aber heißt das denn, dass er nicht stattfindet? Die Bomben fallen auf Aleppo, hier brennen die Flüchtlingsheime. Und wir stehen nicht vor dem Reichstag, wir rufen nicht: Nie wieder Krieg. Wir spielen lieber Pokémon.“ (aus Atlas der Angst, Seite 161)
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„Ich denke an den Koffer des alten Mannes, der neben seinem Schreibtisch steht, den er nur greifen muss, um das Land zu verlassen. Papiere, Seife, eine Zahnbürste und Geld. Ein Erbe seiner selbst. Nach Norden würde er gehen, im Fall des Falles, sagte er. Dort sei es sicherer, dort seien weniger Menschen. Die Kälte, der Schnee, die Leere. Nach Norden, sagte er. Immer weiter nach Norden.“ (aus Atlas der Angst, Seite 208)

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Armin Smailovic widmet sich in seinen dokumentarischen Arbeiten vor allem Gesellschaften in Krisen- und Kriegsgebieten und deren politischen Folgen. Seine Projekte und Aufträge/Reportagen tragen eine eigene fotografische Handschrift und werden in renommierten Magazinen wie SZ Magazin, Zeit Magazin, Der Spiegel und auch in größer angelegten Serien/Büchern für Institutionen wie die UN veröffentlicht. Konzeption und Ideenfindung sind seine Stärken. So brachte Armin Smailovic als Autor und Co-Regisseur auch zwei Theaterstücke, basierend auf seinen dokumentarischen Werken zu "Srebrenica - I counted my remaining life in seconds…" (Premiere 2015) und "Atlas der Angst" (Premiere 2017) am renommierten Thalia Theater in Hamburg auf die Bühne.

Armins Reportage- und Porträtarbeiten wurden unter anderem sechsmal beim Hansel Mieth Preis (2010, 3x 2014, 2017, 2020) ausgezeichnet, darunter der Grand Prix 2014 für “Angst“, den Preis der Stadt München für herausragende fotografische Leistungen erhielt er auch 2014 und den LEAD AWARD (Silbermedaille) für die beste Reportage 2010 und für die beste Porträtarbeit (Silbermedaille) 2013, sowie den 09. Marler Media Award für Menschenrechte 2016 der deutschen Sektion von Amnesty International. Er ist 2010 Gründungsmitglied des „Fotodoks“ -Festivals für Dokumentarfotografie in München und war bis 2017 Co-Kurator. Von April 2017 bis Februar 2019 unterrichtete er Dokumentarfotografie an der Fachhochschule Bielefeld. Er ist 2020 Gründungsmitglied der Agentur Focus – Die Fotograf*innen.
Er lebt zwischen München und Sarajevo.

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